Am 8. März 2023 besuchten WiE & F auf Einladung der Grünen in Brandenburg gemeinsam mit einer vierköpfigen Frauendelegation unter Leitung der Landtagsabgeordneten Petra Budke die Gemeinschaftsunterkunft in Hohenleipisch im Landkreis Elbe-Elster in Brandenburg. Wir waren dort, weil unsere Schwester Rita am 20. Juni 2019 300 Meter vom Lager entfernt tot und mit Brandspuren übersät aufgefunden wurde, nachdem sie am 7. April 2019 vermisst worden war. Sie war 32 Jahre alt und hatte zwei Kinder im Alter von unter 4 Jahren.
In Hohenleipisch trafen wir uns mit dem Sozialamt des Landkreises, das für das Lager zuständig ist, und der Diakonie, die das Lager derzeit verwaltet. Ziel des Treffens war es, über unsere Schwester Rita zu sprechen und über die Lebensbedingungen der Frauen und Kinder, die derzeit im Lager leben. Dies haben wir erfahren:
Die Untersuchung von Ritas Tod
Wie die Medien damals berichteten, gab es bereits nach der Vermisstenmeldung von Rita besorgniserregende Verzögerungen und rote Fahnen in der Art und Weise, wie die Polizei ihre Ermittlungen durchführte. Seitdem Rita 2019 tot aufgefunden wurde, gibt es kaum Fortschritte bei den von Oberstaatsanwalt Gernot Bantleon in Cottbus geleiteten strafrechtlichen Ermittlungen zu ihrem Mord. Bei unserem Treffen wurde uns auch bestätigt, dass wichtige Akteure wie das Sozialamt und der Hauptverdächtige (der inzwischen untergetaucht ist) nie von den Ermittlern kontaktiert wurden. Wir konnten nicht weiter über Rita sprechen, da die Diakonie sich weigerte, über ihren Fall zu sprechen. In diesem Sinne war unser Treffen nicht ergiebig.
In der Zwischenzeit haben wir herausgefunden, dass die Leitung des Lagers zweimal gewechselt hat: im Januar 2021 von Human Care – die das Lager seit 1992 verwaltet hatten – zum Internationalen Bund und im Oktober 2022 vom IB zur Diakonie. Anfang 2022 erfuhren wir auch, dass alle Bewohner*innen, die mit Rita zusammenlebten und sie kannten, ausgezogen und an andere Orte verstreut worden waren. Die Verzögerungen bei den Mordermittlungen machen Ritas Geschichte zu einem Cold Case.
Das Lager von Hohenleipisch heute
Das Lager ist extrem isoliert. Es liegt 160 km südlich von Berlin im südlichen Brandenburg, an der Grenze zum Bundesland Sachsen. Es liegt mitten im Wald, am Rande einer Straße, auf der die Autos mit 70 km/h rasen. Es gibt keine Bürgersteige und die einzige Möglichkeit, das Dorf Hohenleipisch zu erreichen, ist ein öffentlicher Bus, der nur stündlich fährt. Die Bewohner*innen des Lagers haben in einem offenen Brief, der kurz nach Ritas Tod im Jahr 2019 veröffentlicht wurde und in dem die Schließung des Lagers gefordert wird, ihre Ausgrenzung anschaulich erklärt. Ein etwa zur gleichen Zeit gedrehtes Video des Kollektivs SCRATCH veranschaulicht dies ebenfalls gut.
Trotz des schrecklichen Endes von Rita ist das Lager immer noch in Betrieb und rühmt sich, ein Ort für Familien und Kinder zu sein. Heute ist das Lager rund um die Uhr von zwei Wachleuten bewacht und mit 165 Plätzen eingezäunt, von denen 38 von 27 Kindern und ihren 11 alleinerziehenden Eltern belegt sind.
Theoretisch sollten diese Familien nicht länger als sechs Monate im Lager untergebracht werden, tatsächlich können sie aber bis zu einigen Jahren hier bleiben, da es, wie sowohl das Sozialamt als auch die Diakonie einräumten, schwierig ist, sie im Landkreis unterzubringen, da „die Einheimischen sie nicht [in der Nähe] haben wollen“. Daher bleiben sie im Wald.
In diesem Zusammenhang war es auch interessant zu hören, dass fast alle Ukrainer*innen in Brandenburg direkt untergebracht wurden, ohne vorher in einem Lager wie dem in Hohenleipisch wohnen zu müssen. Dies wirft erneut die Frage auf, die wir WiE & F schon oft von Bewohner*innen anderer Lager gehört haben, nämlich ob nicht-ukrainische Flüchtlinge und Asylbewerber*innen wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden.
Die Richtlinie 2013/33/EU über die Normen für die Aufnahme von Asylbewerbenden besagt eindeutig, dass Asylbewerbenden Zugang zu Anwält*innen, Zugang zu Schulbildung (verpflichtend zwischen 6 und 15 Jahren) sowie zu medizinischer und psychologischer Betreuung gewährt werden sollte. Nach dieser Richtlinie, die in allen EU-Mitgliedstaaten geltendes Recht ist, sollten Asylbewerbende auch am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen können, was auch bedeutet, dass sie Besuch empfangen und nach der Schule Freund*innen besuchen oder einladen können. Die Richtlinie besagt auch, dass wir nach 9 Monaten Erstaufenthalt eine Arbeitserlaubnis erhalten sollten und Zugang zu Alphabetisierungs-, Sprach- und Integrationskursen haben sollten. Wir haben jedoch schulpflichtige Kinder gesehen und mit ihnen gesprochen, die nicht zur Schule gingen und kein Deutsch sprachen. Wir sprachen auch mit einer Frau, die uns bestätigte, dass sie nicht in der Lage war, Deutsch- und Integrationskurse zu besuchen. Aufgrund der Lage des Lagers und des Mangels an öffentlichen Verkehrsmitteln glauben wir auch nicht, dass die Bewohnenden außerhalb des Lagers sinnvolle Freundschaften aufbauen können. Unser Besuch in Hohenleipisch und unsere Gespräche mit den Bewohnenden haben bestätigt, dass diese Rechte zwar auf dem Papier bestehen, die Asylbewerbenden in Hohenleipisch aber aufgrund der Lage des Lagers nicht über diese Grund- und Menschenrechte verfügen.
Unsere Forderungen
1. Sicherstellung, dass eine strafrechtliche Untersuchung von Ritas Tod effektiv und rechtzeitig durchgeführt wird, auf jeden Fall aber vor 2025, wenn das Lager Hohenleipisch geschlossen werden soll. In Ritas Fall geht es um Ritas Recht auf Leben (Artikel 2 der EMRK), um das Recht von Rita und ihrer Familie auf Privat- und Familienleben (Artikel 8), um das Recht von Rita und allen anderen Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 13) und um das Diskriminierungsverbot (Artikel 14). Der Fall von Rita liegt somit eindeutig im öffentlichen Interesse. In Ritas Fall kann es daher erforderlich sein, die Ermittlungen von Cottbus zur Staatsanwaltschaft Brandenburg an der Havel zu verlagern;
2. Wohnungen für alle schutzbedürftigen Bewohner*innen, alleinstehenden Frauen und Familien aus dem Lager. Dies ist nicht nur für ihre Sicherheit wichtig, sondern auch für die Wahrung ihrer Grund- und Menschenrechte.
Dazu bedarf es eines gemeinsamen politischen Willens. Wir hoffen, dass wir uns wieder mit den Grünen treffen können und sie uns dabei helfen, Ritas Fall im Brandenburger Landtag vorzubringen, der unserer Meinung nach im Moment das einzige Gremium ist, in dem wir unsere Beschwerden vorbringen und Ritas Fall voranbringen können.
In Zukunft werden wir auch daran arbeiten, mehr darüber herauszufinden, wie alleinstehende Frauen und Kinder in Hohenleipisch behandelt werden, und sehen, wie wir sie am besten unterstützen können.